Mit der Schlagzeile „Dieses Buch erklärt uns Autismus so, wie wir ihn noch nie gesehen haben.“ beschrieb die britische Tageszeitung THE INDEPENDENT Naoki Higashidas Werk „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann (Ein autistischer Junge erklärt seine Welt)“. Ich stieß auf das Buch, als ich zum Thema des frühkindlichen Autismus recherchierte, zu dem es ja auch ein Seminar von mir gibt.
Bei Higashida, geboren 1992 in Kimitsu, Japan, wurde im Alter von fünf Jahren schwerer, nonverbaler Autismus diagnostiziert. Er lernte mit einer Alphabettafel zu kommunizieren und schrieb schon früh Gedichte und Kurzgeschichten. Im Alter von 13 Jahren verfasste er schließlich das Buch, um das es hier im Buch-Tipp geht. 2007 in Japan erschienen wurde es mittlerweile in mehr als 30 Sprachen übersetzt und der Autor für seine Texte mehrfach ausgezeichnet. Heute hält er Vorträge zum Thema der unheilbaren Autismus-Spektrum-Störung (ASS).
Im Buch (das im englischsprachigen Original „The Reason I Jump: One Boy’s Voice from the Silence of Autism“ heißt*) widmet sich Naoki Higashida Fragen, die sich Außenstehende im Zusammenhang mit Menschen, die an ASS erkrankt sind, stellen, darunter: „Warum magst du nicht meine Hand halten?“, „Weshalb bist du so gern allein?“, „Warum guckst du uns nicht in die Augen?“ oder „Wieso rastest du aus?“ Das sind nur einige der vielen Fragen, die Eltern eines autistischen Kindes umtreiben und in diesem Buch finden sie Antworten, denn der Autor nimmt die Leserschaft mit in seine Welt, erklärt, was in ihm vorgeht – und löst mit seinen Antworten das bequeme Klischee auf, Menschen mit Autismus hätten keine Gefühle. Es ist zudem keine wissenschaftliche Abhandlung, aber umso mehr geeignet, das Bild vom Autismus zu erneuern und zu vervollständigen.
Den Großteil des Buches machen insgesamt 58 Frage-/Antwort-Erzählungen aus, meist in der Art einer Parabel, also gleichnishaft, aufgebaute Geschichten, die sich auf die einzelnen Themen beziehen. Der Rest ist Kurzprosa von Higashida, der sein Buch mit einer Kurzgeschichte („I’m Right Here“ / „Ich bin doch da“) beendet. Darin heißt es: „Ich habe diese Geschichte in der Hoffnung geschrieben, dass sie Ihnen hilft zu verstehen, wie schmerzhaft es ist, wenn Sie sich den Menschen, die Sie lieben, nicht mitteilen können. Wenn diese Geschichte Sie auf irgendeine Weise im Herzen berührt, dann glaube ich, dass Sie auch die Herzen von Menschen mit Autismus erreichen können.“
Übrigens: Der auf seinem Bestseller basierende Dokumentarfilm „The Reason I Jump“ / „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“ kam im Frühjahr 2022 in die Kinos und beispielsweise polyfim schrieb dazu „… eine intensive Entdeckungstour mit einer klaren Botschaft: Nicht sprechen zu können bedeutet nicht, dass es nichts zu sagen gibt.“ Der Film ist ein lohnenswerter Einblick in eine fremde Welt; das Buch darüber hinaus eine erstaunliche und beeindruckende Leistung. Für die internationale Ausgabe schrieb David Mitchell (selbst Vater eines autistischen Kindes) das Vorwort – ein britischer Autor, der für sein Werk mehrfach mit Preisen ausgezeichnet wurde und dessen Buch „Cloud Atlas“ ein Weltbestseller ist, gemensam mit seiner Ehefrau Keiko Yoshida. Higashida ließ dem Buch übrigens ein Werk mit dem Titel „Fall Down 7 Times Get Up 8: A Young Man’s Voice from the Silence of Autism“ nachfolgen.
Und wie ist das nun mit dem „in-die-Augen-sehen“? – Da ich weder ihrem Leseerlebnis noch Higashidas eigenen Worten vorgreifen möchte, berichte ich es ihnn mit meinen: Menschen können meist allein durch den Blickkontakt erkennen, wie unterschiedlich eine Person je nach ihrer Mimik wirken kann. Das aber kann für jemanden mit Wahrnehmungsstörungen sehr überwältigend sein. Diese Überreizung ist der Grund, warum viele autistische Kinder, Jugendliche und Erwachsene Blickkontakt oft vermeiden, es sei denn, sie haben das gezielt gelernt und geübt. Letzteres bedeutet auch, dass sich das Herstellen von Blickkontakt für Menschen mit einer ASS im Laufe der Zeit verbessern kann, oder anders ausgedrückt: Sie können mit der Zeit neue Strategien entwickeln, um mit der „Blickkontakt“-Überreizung besser umzugehen.
* = im japanischen Original „Der Grund, warum ich, der ich Autist bin, auf und ab hüpfe. (Das innere Herz eines Mittelschülers, der nicht kommunizieren kann)“ bzw. 自閉症の僕が跳びはねる理由~会話のできない中学生がつづる内なる心~.
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